19.4.24

Frage ohne Antwort

 





















Es ist schon etwas Seltsames: Ich fordere ständig Antworten. Ich will den Grund für alles wissen, was mir und anderen passiert. Warum eigentlich? Als ob alles so einfach wäre. Als ob jede Wirkung einer genau definierten Ursache entspräche. Als ob jeder wüsste, warum er tut, was er tut, oder warum er es nicht tut!

Außerdem mache ich ständig den Fehler, mehr wissen zu wollen, als ich wissen muss. Aber es ist naiv zu glauben, dass es auf jede Frage eine Antwort gibt und dass die Dinge immer auf die scheinbar logischste Erklärung passen.

Mir ist klar, dass mein Verhalten selten dem entspricht, was normal erscheint. Es ist eines meiner Probleme, herauszufinden, wie ich auf jede neue Situation reagieren werde, weil meine Handlungen völlig unvorhersehbar sind, nicht nur für mein Gegenüber sondern auch für mich selbst.

Deshalb möchte ich nicht immer wieder um Antworten gebeten werden, auf die ich dann hilflos reagieren muss. Frag mich nur nicht, warum ich das getan oder vielleicht damit aufgehört habe. Ich kann meist wirklich nicht sagen, warum ich mich so oder so verhalten habe, denn ich weiß es nicht und kann es auch nicht herausfinden. 

Es gibt halt Fragen, auf die es einfach keine Antworten gibt! Und vielleicht ist es auch so besser. Denn unbeantwortete Fragen hinterlassen stets eine Lücke, die noch lange auf der Seele brennt. Schlaflose Nächte, unruhige Dialoge sind nicht unbedingt das, wonach ich mich sehne! Und besonders schlaue Antworten von Menschen, die nicht mehr wissen als ich selbst, sind mir ein Gräuel.

Fazit? Nicht alles, was man wissen könnte, ist es auch wert, gewusst zu werden! Es ist zwar nicht gesagt dass man ruhiger lebt, aber vielleicht bietet mehr Unbefangenheit ein zufriedenes Dasein?

 

16.4.24

Bindungen

 


 










Jeder von uns, ob jung oder alt, hat seine physischen oder mentalen Verbindungen zu Umständen aus der eigenen Vergangenheit. Ob positiv oder traumatisch, ob traurig oder fröhlich, immer geht es um Ereignisse, die uns auf die eine oder andere Weise geprägt haben. Bindungen aus der Vergangenheit können viele oder wenige sein, wir tragen mehr mit uns herum, als wir eigentlich ertragen können! Wir möchten uns sicher von vielen dieser Bindungen lösen, finden aber meist keinen Weg aus diesem Dilemma.

       Auf die eine oder andere Weise lassen wir zu, dass die Vergangenheit stets zu uns zurückkehrt oder in unseren Gedanken präsent ist. Es ist häufig möglich, dass die Vergangenheit oft innere Ängste hervorruft, die uns daran hindern, unsere Gefühle zu verbessern. Emotional oder in unserem täglichen Leben passiert das alles immer dann, wenn wir uns immer wieder auf das Gleiche konzentrieren müssen, als ob wir keinen Ausweg aus dem finden, was bereits von selbst zu einem Problem geworden ist.

       Es sind die »inneren Ängste« vor dem, was wir befürchten, und wir leben mit der Paranoia, dass etwas Schlimmes passieren könnte, obwohl das Leben seinen Lauf nimmt. Wir bestehen dann darauf, unsere inneren Ängste aufrechtzuerhalten, wir nähren das Gute und das Schlechte in unseren Gedanken, So bleiben sowohl die Bindungen der Vergangenheit als auch unsere inneren Ängste bestehen, solange wir sie in unseren Gedanken zulassen. Wir sollen immer daran denken: Glückliche Momente, die einen positiven Unterschied in unserem Leben gemacht haben, sind es wert, mit unseren Gedanken „gefüttert“ zu werden.

        Alle anderen Zeitläufe, die zur Belastung beitragen, müssen in den fernen Erinnerungsschichten verborgen bleiben, weil sie dazu beitragen, uns zu belasten. Was bringt es schon, wieder und wieder in alten Truhen zu forschen? Staub wird aufgewirbelt, der nichts zur Gegenwart beitragen kann ...

12.4.24

Die Schubladen

 


 












Da steht er nun. Ein alter Sekretär, relativ antik, buchenlook, mehrfach aufgearbeitet. Ein ganz tolles Möbelstück, bestimmt älter als ich selbst. Ich sah ihn damals einsam an der Strasse stehen, auf den Sperrmüll wartend. Es liess mir keine Ruhe, ich musste ihn einfach haben und nun steht er bei mir in der Diele. Jeden Morgen strahlt er mich an, es ist einfach eine Freude, diese alte Kommode zu sehen, ich vermute manches mal, dass dieser Sekretär sich genau so freut, wenn er mich sieht.

Das Interessanteste an ihm sind die vielen Schubladen. Es sind zwölf an der Zahl, acht kleine und vier grosse. Anfangs dachte ich im Stillen daran, dass dort irgendwelche Fundstücke zu entdecken wären, leider wurde ich da enttäuscht. Ausser einigen alten Zeitungen von 1934, die dort als Bodenbelag dienten, gab es nichts zu entdecken. Aber auch diese erzählten mir sehr viel über die Zeit, als ich noch als Baby in der buchstäblichen Wiege auf meine Zukunft wartete.

Schubladen wecken stets in mir ein kindliches Bedürfnis, irgendwelche Geheimnisse zu erforschen. Wo aber fange ich hier an? Welche Schublade öffne ich zuerst? Sie sehen alle so ähnlich aus. Nehme ich die erste oder die letzte? Nehme ich die letzte, wird sie die die erste sein. Wenn ich aber die erste nehme, bleibt alles beim alten. Ich könnte natürlich auch die vierte oder sechste nehmen - aber, von woher zähle ich jetzt, von links oder von rechts? Ist das jetzt ein Schritt zur Weisheit? Gibt es die weise Erkenntnis in der Mitte oder eher an den Seiten? Es ist schon so, eine unbekannte Schublade zu öffnen bleibt schon ein Erlebnis.

Ich könnte die kleine dort ganz am Ende zuerst öffnen. Ist das vielleicht die Schublade der Vergangenheit? Die wollte ich eigentlich gar nicht. Dort die zweite, das könnte die der Freude sein. Gut. Wenn ich das so bedenke, sie könnte aber auch die Traurigkeit beinhalten. Also ich muss mich endlich mal entscheiden. Ich nehme einfach die grösste Schublade dort unten, fertig. Das ist die, in dem die alte Zeitung den Boden bedeckt. Ich lese auf diesem altersgebräunten Papier








Das steht also in der »Ostpommerschen Zeitung« in der Ausgabe des 28.Januar 1934. Ich staune. Da war die SPD noch eine Partei, die gegen die braunen Horden auftrat - auch wenn das nicht mehr viel nützte.

Da, die kleine Eckschublade ganz links ziehe ich ganz leise und behutsam heraus. Auch dort eine Papiereinlage auf dem Boden. Ein Bild in groben Rastern aus einer Zeitung, dann ein Text von 1934

. 


Soso, denke ich, es gab sie also auch in anderen Ländern, diese KLs. Ja, solch alte Schubladen bringen doch manches zutage, von dem man nichts wusste.

Noch einige Schubladen ziehe ich auf, manche leer, in einer eine alte Blechdose mit dem Aufdruck »Ich hab’s, URBIN!«. War damals die Schuhcrememarke in Deutschland.

Nachdenklich schaue ich mir das alte Möbelstück an. Wie viel persönliche Schicksale waren wohl schon mit ihm verknüpft, wer alles hat diese Schubfächer tausend und mehr Male geöffnet. Ich komme ins Grübeln, aber all das Denken bringt mich nicht weiter, weil mir die Verbindung zu den speziellen Menschen halt fehlt. So werde ich diesen alten Sekretär auch weiterhin als ein exotisches Stück Vergangenheit betrachten, der mir zwar einige Anhaltspunkte gab, dann jedoch nur noch ein wissendes Lächeln für mich übrig hatte!

11.4.24

Die Stille in uns

 














Als er in der Frühe zu ihr kommt, hat der morgendliche Ablauf schon seinen Anfang genommen. Wie jeden Morgen singt Maria mit ihrer wunderschönen glockenhellen Stimme ihr Lied und die Menschen im Speisesaal hören ihr begeistert zu. Alle Schwestern und Patienten kennen dieses eintönige, unharmonische Lied, es beginnt und endet immer mit dem gleichen Ton. Dieser Ton verklingt zwar schnell, ist jedoch unterschwellig immer hörbar, ohne dass ein Nachhall die Resonanz stört. Irgendwann wird der letzte Ton zum Schweigen gebracht, ist nun nach zahllosen Wiederholungen unhörbar geworden. Dann tritt für lange Zeit eine Stille ein. Eine erbarmungslose Stille, sie eroberte den Raum sehr schnell wieder zurück.

        Maria verbeugt sich nach allen Seiten, wirft hier und da eine Kusshand in den Saal und setzt sich dann an ihren Frühstückstisch. Dann schweigt sie. Es ist, als wäre der Stundenschlag der Glocke verhallt und ruhte sich nun aus für den nächsten Auftritt. Die wunderschönen blauen Augen der Frau leuchteten früher stets in leidenschaftlichem Glanz, jetzt sind sie stumpf geworden, blicken rastlos im Raum umher. Ihre ziellosen Blicke verursachen ein Chaos in seinen Gedanken.  

      Sie schaut ihn an, aber sie sieht ihn nicht. Sie erzählt etwas und weiss doch nicht, was sie sagt. Sie sitzt vor ihrem Teller und kann allein nichts damit anfangen. »Mutti« nennt sie die Nachtschwester und erzählt ihr, dass ihr Bruder sie geschlagen hätte. Ihre Worte sind keine Sätze mehr, nur halb verständliches Kauderwelsch.

       Jeder dieser emotionale Momente bringt seine Gedanken ins Ungleichgewicht, baut sich zeitweilig auf zur Aggression, um kurz darauf in eine tiefe Mitleidsphase zu versinken. Er will mit ihr zusammen sein, ja, aber er kann sie nicht mehr erreichen. Sie lächelt ihn an, ein leeres Lächeln, das nichts weiter bedeutet. Er versucht daraufhin, ihr etwas Liebes zu sagen, sie versteht es nicht, nickt nur mehrmals heftig mit dem Kopf. Ihr Blick verrät ihm, dass sie nichts verstanden hat.

       Trauer macht sich in seinem Gemüt breit, wie stets in solchen Situationen drückt sie sein eigenes Ego völlig an den Rand des Daseins. Maria ist nicht mehr seine Maria und doch ist sie seine Frau, die er so sehr geliebt hat und immer noch liebt. Er wünscht sich nichts mehr, als in ihre Welt eindringen zu können, sie zu verstehen, wie er sie in all den Jahren ihres Zusammenseins immer verstanden hat. Doch sie ist ihm entglitten, ist nur mehr eine leere Hülle, ihre Seele hat sie schon längst verlassen. Er muss einfach akzeptieren, dass ihrer beider Herzen nicht mehr im gleichen Takt schlagen, sondern getrennt voneinander in verschiedenen Existenzen leben.

    Welch eine Wahrheit, welch eine unselige Gewissheit wird hier offenbar. Wie weit reicht Liebe? Kann sie den Tod überdauern? Vielleicht. Kann sie aber einem Leben so viel Energie schenken, dass sie auch weiterhin, trotz einseitiger Zuwendung, bestehen bleibt? Fragen, die kaum jemand beantworten kann.
     Maria ist seine Frau. Gewiss. Aber sie ist ein anderer Mensch. Er liebt sie auch weiterhin, aber er liebt einen Menschen, der einmal war und nun nicht mehr der Gleiche ist, nie mehr sein wird. Um diese Diskrepanz zu begreifen, wird er noch lange Zeit brauchen. Diese frühere Zeit ist auch nicht mehr rückholbar, damit muss er leben. Dieses Leben, sein eigenes Leben in der Zukunft aber wird bedeutend schwerer sein als das Leben seiner Frau, deren Gedanken im Nirgendwo ihre Heimat gefunden haben!

 

 

10.4.24

Wer war denn dieser Angelo?

 

 


















Einige Jahre her, in der CORONA-Zeit.

Da steht er nun. Schaut mich treuherzig mit wasserblauen Augen an. Sein verwilderter grauer Vollbart lässt ihn nicht unbedingt vertrauenerweckend aussehen. Der uralte schmutzig-graue Mantel reicht fast bis auf die  Stiefel, die anscheinend völlig neu sind. Über die Schulter gehängt, ein abgeschabter Rucksack; Kordeln ersetzen die Riemen, die ursprünglich vorhanden waren. Sicher enthält er die Habseligkeiten des Mannes. Seine Hände mit den schwarzen Rändern unter den Fingernägeln stecken in alten Fahrradhandschuhen.

Als er heute an diesem regnerischen Abend am Bahnhof schnurgerade auf mich zukommt, will ich eigentlich schnell verschwinden. Hab ich doch selbst genügend Probleme, muss ich mich noch mit denen anderer Menschen befassen? Aber wie auch immer - ich bin wie gelähmt, etwas in mir weigert sich, meinen Gedankengängen zu folgen.

Unruhig drehen die Finger des alten Mannes an einer Schnur seines Rucksacks. Er schaute mich nur sekundenschnell an, dann irren seine Blicke wieder über den Bahnhofsvorplatz, der im spiegelnden Glanz der bunten Lichter ein werbewirksames Abbild der Osterzeit  darstellte. Der Mann reißt plötzlich seine zerschlissene Baseballkappe vom Kopf und spricht mich leise an.
»Entschuldigen Sie«, sagt er in einer warmen Tonlage, die mich irritiert, »Haben Sie vielleicht eine Maske für mich?«

Ich bin so verwirrt, dass ich zunächst nichts erwidern kann, »Verzeihen Sie«, sagt er dann, »Ich wollte Sie nicht belästigen.« Damit dreht er sich um und will weitergehen.

»Nein, warten Sie«, rufe ich, »So ist das nicht gemeint. ich bin nur überrascht!« Ich lächele ihn an. »Ich habe solch einen Wunsch natürlich nicht erwartet, normalerweise ... «

»Ja, ich weiß, es käme wohl die uralte Frage eines ›Berbers: ›Haste mal ´nen Euro?‹ - nicht wahr?« Ich nicke beschämt.

»Hm- so ähnlich wohl. Ist ja auch ungewöhnlich, meinen Sie nicht auch?«

Er schmunzelt. »Ich denke, das ist heute schon normal, oder?« Ich nicke, krame dann in meiner Umhängetasche, ich muss doch noch einige Einmal-Masken bei mir haben. Tatsächlich, da ist noch solch ein Fünfer-Päckchen, ich reiche sie dem Mann zusammen mit einem 10-Euro-Schein. Er ergreift diese kleine Gabe, meint dann, indem er mich mit einem langen Blick ansieht: »Ich habe nicht um Geld gebeten, aber danke trotzdem! Aber ich muss Ihnen noch sagen, wozu ich die Maske brauche! Ich kann einen Bäckerladen nicht ohne Maske betreten. Das ist genauso bitter, als wenn ich kein Geld habe!« 

Er zuckt mit den Schultern. Dann jedoch strahlt er mich an: »Angelo wünscht Ihnen und Ihrer Familie frohe Ostertage!« Er verneigt sich leicht vor mir - ein ungewohntes Bild, wie einem Märchenbuch entsprungen, es fehlt nur das Glitzern der Reklame. Dann fragte er leise, aber eindringlich: »Kann ICH etwas für SIE tun?«

Ich weiß keine Antwort darauf. Dann ein Wink mit seiner freien Hand - und ebenso plötzlich, wie er erschienen ist, taucht er in der Menge der Passanten auf dem Bahnhofsvorplatz unter.

Lange sinniere ich noch über diese Begegnung. Wer war bloß dieser Angelo?

 

9.4.24

Braun ist keine Farbe.

 


 










Ist es nicht schön, dieses Blau des Meeres, das sich mit den Farbtönen des azurblauen Himmels paart? Ich liebe diese morgendliche Stimmung, wenn die Möwen die einzigen Gäste sind, die über dem weißen Sandstrand ihre Kreise ziehen. Die dunkelgrünen Föhren über den Dünen bilden einen harten Kontrast zu den filigranen Federwölkchen, die hoch droben dahingleiten. Es ist ein romantischer Anblick, an dem ich mich täglich neu erfreue.

        Jetzt, um sechs Uhr morgens, bin ich noch voll aufnahmefähig für all die schönen Dinge, die mir dieser Urlaubstag aufzeigen möchte. Später dann, wenn die Sonne auf ihrer Bahn fast senkrecht über dem Strand steht, lenkt ihre übermäßige Wärme mein Denken in ziemlich utopische Gefilde von angenehmer Kühle und erfrischenden Winden.

        Mit aufgekrempelten Hosenbeinen, die Sandalen in der Hand und einen zerfledderten Strohhut auf dem Kopf, wandere ich vom Molenkopf des Hafens immer weiter den Strand entlang; ohne bestimmtes Ziel versuche ich der blassblauen Küstenlinie entlang nach Osten zu folgen. Ich mag diese Ziellosigkeit, weil sie einen Kontrast zum Berufsalltag bildet, der eine völlige Gegensätzlichkeit beinhaltet. All das habe abgehakt. Ich bin der Meinung, wer fünfundvierzig Jahre im Beruf tagtäglich in einem strengen Prozess eingebunden war, darf sich nach der Pensionierung wirklich frei fühlen.

     Die Hafenmole liegt schon weit hinter mir, der wunderschöne weiße Sandstrand ist inzwischen grobem Kiesstrand gewichen. Hier läuft es sich barfuß nicht mehr so gut. Aber wozu habe ich meine Sandalen, schließlich bin ich keine Seeschwalbe, die hier ständig auf- und ablaufen kann, ohne sich die Zehen zu stoßen. Ein Blick zurück - oha, bin doch schon länger unterwegs, als ich eigentlich vorhatte. Ich beschließe, meinen Rückweg nun oben am Rand der Dünen unter den hohen Föhren fortzusetzen.

     Gar nicht so einfach, die Dünen zu erklimmen! Da es ziemlich steil hinaufgeht, brauche ich für drei Schritte aufwärts immer einen, den ich wieder zurückgleite. Aber irgendwann ist dann die Oberkante der Düne erreicht. Welch ein herrlicher Ausblick bietet sich hier! Der breite Kiesstrand umsäumt die tiefblaue Ostsee, deren grenzenlos erscheinende Weite im Sonnenglast des Horizonts versinkt. Man ahnt dort wohl ein Ende, kann es aber mit eigenen Sinnen nicht erreichen. Fast eine Viertelstunde widme ich mich diesen Eindrücken, bevor ich mich wieder in Richtung Hafen aufmache. Ein schmaler, aber guter Pfad im Schatten der Föhren erleichtert mir den Weg zurück.Ich summe ein Liedchen vor mich hin, eine alte Melodie, die ich als Kind schon oft hörte. Wie lange ist das her? Siebzig, fünfundsiebzig Jahre?
»… dazwischen trocknen im Sonnenglanz, die Netze der Fischer am Strande …«

  Nun, von Fischernetzen ist hier nichts zu sehen, Fischfang ist wohl nicht mehr der Haupterwerbszweig, denke ich bei mir. Heute ist die Tourismus-Industrie wohl an dessen Stelle getreten. Der Sandstrand auf den zwei Kilometern nahe des Hafens ist in der Hauptsaison gewiss voll mit Menschen. Es gibt dann sicher keinen Quadratmeter des Strandes mehr, der ohne Gäste wäre. Ist wohl überall gleich, denke ich, ob auf Teneriffa, den Balearen oder eben hier an der pommerschen Ostseeküste.

      Ich wandere langsam auf dem schmalen Pfad weiter, mein Blick haftet dabei auf der Ostsee, deren Horizont fern im Blau des Himmels verschwimmt. Meine Gedanken sind dabei rückwärts gerichtet in die eigene Vergangenheit. Wie oft bin ich damals hier mit Eltern und Großeltern entlanggegangen! Ich mochte diesen Weg überhaupt nicht, er war mir zu ›langweilig‹! Viel lieber lief ich unten an der Wasserlinie entlang, dort fand ich immer interessante Dinge, die mich begeisterten. Muscheln, Seetang, Korken von Fischernetzen und oftmals auch kleine Stücke vom Bernstein, die das Meer angespült hatte.

    Leider hatten solche Ausflüge für einen wie mich, den achtjährigen Jungen, Seltenheitswert. Zumal der Weg bis zum Strand ohne Fahrgelegenheit immerhin vier Stunden gedauert hätte. Das aber wurde mir natürlich verboten! Dieses Verbot war natürlich voll in Ordnung. Aber - für einen Jungen mit einer enormen Abenteuerlust im Kopf, ebenso natürlich unverständlich.

     Ich fahre aus meinen Gedanken hoch! Dort vorn - was oder - wer war das? Im Näher gehen sehe ich einen alten Mann auf einem Hocker sitzen, vor sich eine Staffelei. Ich gehe leise näher und grüße: »Dzień dobry, proszę pana!« Er dreht sich zu mir um, sieht mich mit einem langen Blick an. Sagt zunächst kein Wort, legt dann aber den Pinsel, den er in der Hand hält, an der Staffelei ab und meint schließlich: »Sie können Deutsch mit mir reden. Es ist meine Muttersprache!«

     »Woher wissen Sie, dass ich ...« Er unterbricht mich: »Dreiviertel aller Touristen sind hier Deutsche. Und Sie, Sie sehen so deutsch aus!« Er lächelt dabei, weist mit der Hand auf einen Baumstumpf neben sich, »habe leider keinen besseren Platz für Sie!«

      Ich setze mich neben ihn. Er scheint etwa in meinem Alter zu sein, sein zerfurchtes Gesicht aber lässt ihn älter erscheinen. Er trägt helle Bermudas und ein kariertes Hemd, dazu einen alten Hut mit breitem Rand. So ähnlich hatte ich mir früher immer den großen Maler ›van Gogh vorgestellt‹. »Na«, sagt er dann, »haben Sie mich nun eintaxiert? Ist Ihnen der Herr Heymann koscher genug?« Er lacht auf. »Entschuldigen Sie, das Wort kennen Sie in Deutschland wohl nicht mehr, nicht?

  Mir ist zunächst etwas unbehaglich zumute, doch das vergeht dann schnell. »Sie irren sich«, sage ich, »ich habe nichts gegen jüdische oder jiddische Ausdrücke. Und ich kenne viele davon. Meine Großmutter hatte mir die in meiner Kinderzeit beigebracht. Obwohl die damals verboten waren und streng bestraft wurden!«

        Er mustert mich plötzlich aufmerksam von der Seite. Ich scheine in seinen wachen hellen Augen bestanden zu haben. »Würden Sie mir sagen, welcher Jahrgang Sie sind?« Er fragt es mit einem leisen Unterton.

       Ich lache kurz auf. »Guilty or not guilty?«
Ich schüttle meinen Kopf, »Nein, Herr Heymann, Sie irren sich. Ich war bei Kriegsende gerade Elf!« Er nickt. »Genau wie ich!« sagt er dann. Dann wird seine Stimme, die bisher nur halblaut gesprochen hatte, lauter: »Nein, nein, Sie missverstehen mich. So war es nicht gemeint. Wie käme ich dazu, Sie anklagen zu wollen. Wir waren Kinder. Ich wurde ›weggeführt‹ und Sie wurden ›verführt‹. So hatte jeder sein Schicksal!«

        Wir schweigen lange Zeit. Er nimmt seinen Pinsel und setzt wieder ein paar Striche und Farbtupfer auf seine Leinwand, die ein fast fertiges Seestück darstellt. 
»Ein wunderschönes Bild«, sage ich ein wenig beklommen, »es zeigt die Natur in all ihrer Schönheit.« Er sieht mich an, sein Blick scheint in die Ferne zu wandern und gleichzeitig bei mir zu sein. »Ich kann die Natur nur so darstellen, wie ich sie sehe. Ich sehe sie so. Ich sah sie schon immer so. Fällt Ihnen etwas auf an diesem Bild?«

Ich stutze. Was sollte das sein? Ich bin kein Kunstkenner. Dann dreht er die Staffelei ein wenig zu mir herum, ich kann nun sein Werk besser betrachten. Es dauert eine ganze Weile, bis ich dahinter komme, was er meint!

    Alle natürlichen Farbtöne haben ihren Platz auf diesem Gemälde erhalten, es ist wirklich ein Genuss, dieses Bild anzuschauen. Dann jedoch sehe ich, was er mir zeigen will: Nicht der geringste Ton einer ›braunen‹ Farbe ist dort vorhanden. Es scheint, als wenn diese Farbe auf seiner Palette überhaupt nicht existiert!

   Verwirrt schaue ich ihn an. Er lächelt, auf eine geheimnisvolle Art, die mich voll in ihren Bann zieht. Er legt den Pinsel wieder weg, nimmt seinen Hut ab und wischt sich mit einem Tuch über das schüttere weiße Haar. »Sie haben es entdeckt, nicht wahr? Es sind nicht viele Menschen, die das sehen! Warum? Weil Braun keine Farbe ist!«
    »Wissen Sie«, sagt er dann, indem er den Kopf wieder bedeckt, »ich weiss nicht warum, aber ich mag Sie! Vielleicht, weil wir gleichen Alters sind? Oder weil wir beide Erfahrungen hatten, die zwar diametral gegenüberliegen, die uns aber doch verbinden!«  Ich lächle und nicke zustimmend, hebe aber dann zweifelnd einen Finger: »Lieber Herr Heymann, da müssen Sie aber scharf aufpassen, dass Sie Rot und Grün nicht mischen!«
     Heymann lacht, er lacht lauthals, und ich kann nicht anders, ich lache mit! Wir wischen uns die Lachtränen vom Gesicht. Welch ein wundervolles Erlebnis, ein Jude und ein Goj sitzen am Ostseestrand und lachen über einen Witz, der im Grund kein Witz ist, sondern eine kleine Episode des wirklichen Lebens.

  Dann erzählt er mir aus seinem Leben, einem Leben, das so völlig anders verlief als mein eigenes. Ich glaubte immer, meine Kindheitserlebnisse waren schwer, die Flucht und Vertreibung vom pommerschen Ostseestrand; nun musste ich mit Erschrecken feststellen, dass dies Murmeln waren im Vergleich zur Größe eines Medizinballes.

    Er erzählt mir vom Vernichtungslager Bełżec in der Nähe von Lublin, in das er aus seiner Heimatstadt Danzig verschleppt wurde. Viel höre ich nicht von ihm, muss ich auch nicht, dieses Elend ist einfach nicht beschreibbar.

  Wir schweigen lange, dann erzähle ich ihm, dass es in Deutschland immer noch Menschen gibt, die diese millionenfachen Morde in den Konzentrationslagern des Hitler-Regimes einfach leugnen. Er nickt. Dann sagt er leise: »Glauben Sie, dass es hier in Polen anders ist? Hier wird nur von den Opfern gesprochen, die Polen waren! Von der Vernichtung der jüdischen Aschkenasim erfährt man höchstens nur am Rande. Es ist eine verkehrte Welt. Erst hatte ich vor, nach Israel auszuwandern. Aber was soll ich da noch? Das hätte früher geschehen müssen, aber ich habe gedacht, es würde hier alles besser werden.«

     Er lachte verbittert auf. »Also bleibt alles, wie es war. Ich mische mich nicht in die Politik ein - und die lassen mich in Ruhe«. Als ich den Mund aufmache, um etwas zu erwidern, meint er: »Ja, ich weiß, wer nichts tut, ist auch schuldig! So sind wir schließlich alle eine Generation der schuldigen Schuldlosen! Lassen wir es dabei.«
Wir verabschieden uns schließlich mit einer Umarmung. Er bittet um die Angabe meiner Anschrift, er will mir das Seebild zusenden, wenn es fertig ist. Ich gebe ihm meine Karte. Ich bekomme also dieses Bild von ihm, ein Bild, das keinerlei Brauntöne aufweist.

  Es ist jetzt drei Jahre her. Das Bild ist leider nicht angekommen. Vielleicht, weil Braun überall wieder Mode wird?

8.4.24

Worte der Liebe

 












Die Stunden der Nacht sind vorüber. Worte beginnen zu wandern. Hier hin - dort hin. Tief unter der Haut verwurzeln die Worte im Zwielicht des Morgens. Streifen leise durch das morgendliche Grau des Zimmers. Flüstern Geständnisse, beichten kleine Geheimnisse des Lebens, die sonst unausgesprochen blieben. Weil Liebe unteilbar ist, bedarf sie weder einer Frage noch einer Antwort.

Blicke treffen sich. Finden sich zum traulichen Miteinander.
Spannen Netze aus filigranen Silberfäden, glänzende Wunderwerke des Daseins. Verbinden sich zur Einheit des frühen Tages ohne Rücksicht auf die gesichtslose Form des Morgens. Die Nacht bleibt zurück, ist bedeutungslos geworden, ist Vergangenheit. Nur die Stunde zählt, die Stunde der Liebenden.

Erinnerungen sprechen eine eigene Sprache, kaum einer versteht sie. Hätten die Augen Geduld, würden sie auf die kleinen Dinge achten, könnten Farben erkennen und aus dem Mosaik Bilder formen. So jedoch bleiben sie im Gewirr des Morgens hängen. Wozu fragen, wenn man die Antwort kennt? Aus dem Dunst der Vergangenheit entsteht ein Fragment der Zukunft, zwar unvollständig, dennoch bildhaft in klaren Farben. 
Nein, Worte sind nicht Schall und Rauch, wie der Dichter sagt! »Ich liebe Dich« ist ein Abbild des Denkens, ein Synonym für ein Miteinander des Lebens, vielleicht begrenzt auf Zeit, vielleicht für die Ewigkeit; auf jeden Fall aber fliegen die Herzen in intimer Zweisamkeit empor zu den Sternen. Sie verlieren sich dort und finden sich immer wieder.

»Ich liebe dich!« Der Sinn dieser Worte ist so bemerkenswert, dass er aufgehoben wird bis an das Ende der Tage. Man möchte ihn mit den Händen fassen und bewahren, obwohl die Vergänglichkeit des eigenen Ichs lange erkannt ist.
Worte sind der Gesang der Seele. Einmal gesprochen sind sie fort, fliegen in die Weite. Kehren auch nie zurück, überwintern im Dunst des Erinnerns, bis sie melodiös als Duett im warmen Strudel des Frühlings erklingen, eine Sinfonie der Liebe in einer Welt der Kälte.

Wenn die Stunden der Nacht vorüber sind, gebiert der Morgen das Licht, lässt das verwelkte Dunkel hinter sich und entsorgt es auf den Stapel des Vergessens. 
Gestern war, morgen wird sein. Beides ist nicht mehr oder noch nicht beeinflussbar, allein das Heute ist der Weg unseres Daseins.

Ohne Notwendigkeit, ohne jede Vorbedingung und ohne jede Suche schenken die Worte der Liebe Wärme und Vertrauen, Hingabe und Erfüllung. Im Leben eines Menschen kann nichts bedeutsamer sein als gemeinsam gelebte Stunden, Tage und Jahre. Sie ergeben die Quintessenz des Lebens zu zweit.

Oftmals aber sind »Einsam« und »Gemeinsam« Zwillingsgeschwister! Dort, wo die Worte der Liebe verloren gehen, verschwindet oftmals das »- Gem -« auf unerklärliche Weise. Und niemand weiss, wohin es ging. Eines grauen Morgens war es nicht mehr da.

Das geschieht dann, wenn die Vergangenheit die Oberhand erhält oder die Zukunft im Blickpunkt steht. Wenn das Heute, das Leben im »Jetzt« nicht mehr vordergründig ist, verliert auch das Wort »Ich liebe dich« an Bedeutung, es wird dann nur noch als inflationäres Anhängsel benutzt und irgendwann hat es seine Wichtigkeit vollends verloren!

Die Nacht bleibt zurück, wird bedeutungslos. Nur die Stunde zählt, die Stunde der Liebenden ...

 

 

 

5.4.24

Der geblümte Himmel

 


 










Wer sagt denn, dass der Himmel stets unifarben und nicht bunt geblümt ist?
Mein Schatz behauptet dies jedenfalls manchmal, nun gehe ich vor die Tür, schaue nach und bin doch enttäuscht. Blumen sehe ich nur im Vorgarten der Nachbarin. Aber die kann ja nichts dafür. Während ich kopfschüttelnd den Himmel betrachte, hinterlässt unser Hund seine Duftmarke am Reifen der vollgepackten Limousine.
Diese trägt diese Botschaft nun in die Welt hinaus, in Luzern erfährt morgen nun eine Hundedame, dass unser »Rex« gerade von einem verdorbenen Magen genesen ist. Macht sie sich nun Sorgen?
Ich denke eher, nein. Er hat sie ja nicht angerufen, der Akku des Mobils war leer.
Er jault leise. Der Hund, nicht der Akku.
Sicher sucht er auch den geblümten Himmel, nun wälzt er sich auf unserer Wiese. Ist doch schön, sich auf solch einer Wiese zu wälzen, denke ich.

Ich werde meinen Schatz fragen, ob sie die Blumen am Himmel wirklich gesehen hat und wenn ja, welche. Im Oktober blühen bei uns jedenfalls keine Tulpen, wir wohnen ja auch nicht in einem Gewächshaus in Noordwijkerhout, sondern in der Lüneburger Heide. Und da ist es auch schön, auch wenn die Tulpen bei uns Erika heissen und violett im August blühen. Aber auch nicht am Himmel, meine Liebste muss sich geirrt haben.

Hab ich eigentlich die Flasche mit dem Apfelkorn weggestellt? Ich bin da mir nicht sicher. Vielleicht hat der Rex sie ja gefunden und deshalb war er krank?
Egal. Aber das gibts doch nicht, der Himmel ist da hinten gewölbt. Warum denke ich jetzt an »Christa Wolf«?
Ah ja: Der geteilte Himmel ... War ganz gut, der Roman.
Geteilt, aber nicht geblümt. Ist doch schade, hätte das so gern gesehen. 
Vielleicht ist er ja in Luzern bunt gemustert? In der Schweiz ist alles möglich.
 Hat das denn noch niemand erforscht? Möglich, dass es ja darüber auch eine Doktorarbeit gibt?
Muss doch mal googln. Dann schreibe ich auch eine. 
Eine Doktorarbeit, meine ich. Über Nachrichten am Autoreifen, aus himmlischer Sicht!
Hat doch was.
»Rex, komm endlich rein!«
Da wälzt er sich zwischen den Rosen im Nachbargarten.
Kann ja sein - wer weiss das schon - das wäre sein Himmel, bunt geblümt?

 

 

3.4.24

Leben, oder was?

 


 















Die Tür geht auf. Warum eigentlich? Sein Bewusstsein hat sich verändert, er weiß nicht, warum die Tür plötzlich offen steht. Doch Dietmar ist sicher, dass diese Tür sonst geschlossen ist. »Tür zu
Er schreit es hinaus auf den Flur, er brüllt es geradezu. »Ganz ruhig, Herr Michels, ich mache sie ja gleich zu, aber sie wollen doch ihren Kaffee, nicht wahr?«

       Aha, Schwester Anne, das ist okay, sie darf ihm immer etwas bringen, sogar diese gelben und rosa Pillen. Wenn sie ihm dann dazu das Wasserglas reicht, ist er von ihren Augen entzückt. Sie strahlen in einem wunderschönen Veilchenblau, es wäre wahrscheinlich eine Sünde, davon nicht hochgestimmt zu sein.

       Diese feste Regel, dass Schwester Anne den Kaffee zu den Bewohnern in die Zimmer bringt, hat sich fest in den Tagesablauf eingegliedert. Dietmar wartet meist den ganzen Nachmittag auf diese drei Minuten, wenn Schwester Anne den Kaffee bringt. Diese Zeit um Fünfzehnuhrdreissig scheint wie ein fester Block in seinen Gedanken zu liegen.

       Vielleicht ist es, weil ihre Freundlichkeit ein Höhepunkt seines Lebens ist? Viel mehr Freuden hat er eigentlich nicht. Seine Erinnerungen treiben ziellos im Fluss des Vergessens dahin, es ist ein stetes Fließen ohne jede Möglichkeit, diesen Strom zu steuern.
 Die Synapsen haben sich miteinander verknotet und so werden aus den Bruchstücken der Vergangenheit stets neue Fragmente der kurzzeitigen Zukunft. Dietmar fragt sich schon lange nicht mehr, wer er eigentlich ist. Er weiß es einfach nicht mehr! Gedankenverloren starrt er auf ein Bild, das auf dem Tisch liegt. Wer diese Menschen wohl sind, die er dort sieht, - und warum liegt das Bild da überhaupt?

       Schwester Anne reicht ihm seinen Kaffee. »Muss eine wunderschöne Reise gewesen sein«, sagt Anne. »Sie waren damals wohl auf Hochzeitsreise? Ihre Frau sieht auf dem Foto aus wie eine Schauspielerin! Das war sicher in Venedig, nicht wahr? Übrigens, sie möchte sie gern heute besuchen!«

       Dietmar sieht sie verstört an. Dann schüttelt er mit Vehemenz den Kopf. »Unmöglich. Ich war nie in Venedig. Und das ist auch nicht meine Frau. Wer soll das sein? Ich habe keine Frau! Und die da soll bleiben, wo sie ist, ich - will - sie - nicht - sehen!«

       Er nimmt das Foto noch einmal in die Hände, führt es ganz dicht vor seine Augen. Dann wirft er es zornig auf den Boden und stampft mit einem Fuß darauf herum. »Ich bin es leid, dass ihr mich immer mit fremden Frauen verkuppeln wollt. Ich brauche keine Frau. Ich kenne die überhaupt nicht und den Kerl daneben schon gar nicht«.

    »Aber nicht doch, lieber Herr Michels, das sind doch sie selbst!« Schwester Anne bleibt die Ruhe selbst, auch als Dietmars Ton harscher wird. Sie ist so etwas gewohnt. Da hilft nur stoische Ruhe. Dietmar steht nun vor ihr, wutentbrannt, zeigt dann mit der Hand auf den Flur: »Verlassen Sie mein Haus! Sofort!« Schwester Anne geht zur Tür, dann sagt sie ganz freundlich, indem sie die Tür schließt: »Ich wünsche Ihnen noch einen guten Abend, Herr Michels.«

       Auf dem Flur steht Marlene Michels an einem Fenster und schaut gedankenverloren hinab in den Hof. Die heftigen Worte im Zimmer bei der halb geöffneten Tür hat sie mitgehört, mit verweinten Augen sieht sie die Schwester an. Anne legt ihr die Hand auf die Schulter, schüttelt dann traurig ihren Kopf. »Es hat keinen Sinn«, sagt sie dann, »Ihr Mann ist weit weg, ganz weit. Er erkennt sich selbst nicht, lebt in seiner Welt, die es so gar nicht gibt. Sie müssen lernen, es zu akzeptieren. Unbedingt! Sonst zerstören Sie ihr eigenes Leben. Und das wollte ihr Mann ganz bestimmt nicht!«

Marlene schaut die Schwester an, nickt lethargisch. Ihre Schritte werden sodann unsäglich schwer, als sie zum Ausgang geht. Aber sie weiß, sie wird wiederkommen, immer und immer wieder ...

1.4.24

Gemeinsam in einer Welt!

 

 








Wer möchte bezweifeln, dass wir in einer Zeit des geistigen Umbruchs leben? Dazu kommt noch, dass dieser Wandel sich nicht nur auf einen begrenzten Bereich erstreckt, sondern eine globale Frage ist. Die christlich geprägte Welt unserer Hemisphäre macht gerade eine zweite Phase der Aufklärung durch, in der Normen und Verhaltensweisen ständig aufs Neue infrage gestellt werden und jederzeit täglich neu diskutiert werden.

       Die islamische Welt dagegen hat im Grunde genommen noch nicht einmal mit der ersten Entwicklungsperiode richtig begonnen! Hier gilt immer noch mit dogmatischen Verhärtung eine überlieferte Tradition, die keinerlei Widerspruch duldet. Wenn die Sharia als politisches Instrument der Herrschaft gilt, wird die Menschlichkeit auf der Strecke bleiben.

       Für diese Entwicklung sind mehrere Gründe verantwortlich. Der Hauptgrund aber dürfte sein, dass auf Grund der Globalisierung weltweit und der Vernetzung durch Medien aller Art alles Geschehen überall in Sekundenschnelle bekannt wird.

       Dies gilt für kriegerische Vorgänge jeder Art, ebenso für Hungersnöte in vielen Ländern der Erde. Bangladesh, Palästina, Syrien, Somalia und der Sudan z.B. sind nicht so weit entfernt, wie sie noch vor hundert Jahren schienen. Durch unsere erhöhte Beschleunigung der Verkehrswege rücken die Völker optisch und auch real immer näher zusammen.

       Die Menschheit lebt weder ethnisch noch politisch oder religiös in abgeschotteten Grenzen. Außerdem ist die Zeit, in der jedes Land ökologisch oder ökonomisch autark leben konnte, lange vorbei. Die sogenannten »Inseln der Glückseligen«, auf der jeder nach seiner Art leben und wirken konnte, gibt es einfach nicht mehr. Die Bedrohungen durch die Urgewalten der Natur oder auch der staatlichen Mächte, die ihre Einflusssphäre ständig ausdehnen wollen, hat allem ein Ende bereitet.

       Lange Zeit gingen die hegemonialen Ansprüche nur von Russland und den USA aus. Im Laufe der Zeit sind es nun Indien, China und die arabischen Länder, auch der Iran, die ihre weltweiten Ansprüche anmelden.

       Für die Staatsmänner der Welt ist es vielleicht noch möglich, die Unterschiede zwischen wirtschaftlichem Wachstum und Armut, zu analysieren. Hier jedoch Lösungen zu finden oder auch nur die Unterschiede zwischen den wirtschaftlichen Interessen auszugleichen, das scheint unmöglich zu sein. Dort, wo klare Entscheidungen getroffen werden müssten, treten Kompromisse an deren Stelle, die nicht weiter nach vorn führen, sondern immer nur im Kreis laufen und niemand weiter bringen.

       Alles Handeln jedoch hat die Maxime, die Freiheit heißt! Als Freiheit der einzelnen Person war sie eine Errungenschaft des Christentums. Sie räumte jedem Menschen, gleich welcher Rasse und welchem Geschlecht eine unmittelbare Beziehung zu Gott ein. Diese Freiheit ist nun allerdings keine allgemein bindende Richtschnur mehr, jeder versteht unter »Freiheit« etwas anderes!

       Freiheit ist ein Gut, das man nicht für sich allein haben kann, es ist ein Universalrecht, das für alle Menschen auf dieser Erde gilt! Als Prämisse aber gilt dabei: Freiheit ist ohne Toleranz nicht möglich, weil die Achtung der Freiheit jedes Einzelnen erst das Zusammenleben möglich macht! Sie schließt dabei aus, dass religiöse Überzeugungen durch Hetze und Drohungen geltend gemacht werden. Das gilt für den einzelnen Menschen und es gilt demgemäß für Völker.

       Hier genau liegt die Schwierigkeit des Verständnisses zwischen dem politisch motivierten Islam und dem Christentum, das für uns die Grundlage des europäischen Wertesystems ist. Es ist dabei eine Illusion, dass man davon ausgehen kann, dass eine ideologische Koexistenz beide unterschiedliche Systeme auf Dauer im Gleichgewicht halten kann. Auch ein militärisches Patt wird dies nicht schaffen.

    Martin Luther sprach von der »Freiheit des Christenmenschen«. An dieser Auffassung scheiden sich die Geister; an ihr kommt niemand vorbei, auch der Islam nicht!

Hannah Arendt, die politische Philosophin sagte einst: »der Grund aller Politik ist Freiheit«. Er macht erst das Leben lebenswert - und das gilt auch für den Islam!

Frage ohne Antwort

  Es ist schon etwas Seltsames: Ich fordere ständig Antworten. Ich will den Grund für alles wissen, was mir und anderen passiert. Warum eige...